Die Erweiterung des Flaschenhalses
Der Verein Erste Generation Promotion unterstützt Promovierende mit nichtakademischem Familienhintergrund auf ihrem Weg.Die Förderung von Schülern und Studierenden mit einem nichtakademischen Familienhintergrund ist wichtig – so viel ist mittlerweile bildungs- und hochschulpolitisch anerkannt. Vielfältige Programme und Projekte, wie etwa Arbeiterkind, wenden sich an diese Zielgruppe und unterstützen sie beim Bewältigen der Hürden auf dem Weg zum Studium und dessen erfolgreichem Abschluss. Doch wie sieht es bei Promotionsinteressierten und Promovierenden aus? Über sie wird in der Regel nicht gesprochen. Manchmal gewinnt man fast den Eindruck, dass davon ausgegangen wird, dass die soziale Herkunft mit dem Beginn der Promotion überwunden wäre. Es wirkt, als ob der Bildungsaufstieg spätestens mit dem Master erfolgreich gemeistert wurde und „der ganze Rest“ nun gar kein Problem mehr darstelle.
Nur eines von 100 Kindern mit nichtakademischem Familienhintergrund schließt die Promotion erfolgreich ab
Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Der Flaschenhals des wissenschaftlichen Systems wird immer enger, sodass im Durchschnitt nur eines von 100 Kindern mit einem nichtakademischen Familienhintergrund eine Promotion erfolgreich abschließt – bei Kindern aus einem akademischen Elternhaus sind es dagegen 10 von 100 (Hochschulbildungsreport 2020). Der Einfluss der sozialen Herkunft lässt sich nicht einfach so überwinden, er wirkt vielmehr ein Leben lang. Und das liegt nicht nur an einer anderen Sprache oder einem fehlenden wissenschaftlichen Habitus – beides Dinge, die sich nur sehr mühsam aneignen lassen. Auch haben in unserem Wissenschaftssystem finanzielle Ressourcen, Netzwerke und „Vitamin B“ noch immer einen sehr großen Einfluss auf die akademische Karriere.
Da ist erstens das fehlende Wissen, das viele verunsichert: Was bedeutet Promovieren eigentlich? Welche Schritte muss ich in welcher Reihenfolge angehen, um eine Promotion aufzunehmen? Welche Möglichkeiten der Finanzierung gibt es und welche Vor- und Nachteile gehen damit einher? Wie veröffentliche ich einen Artikel oder bewerbe ich mich auf eine Tagung? Die Liste der Fragen, mit denen man konfrontiert ist, ist schier endlos. Gleichzeitig finden sich bisher nur wenig zugängliche Informationen und die bleiben zumeist sehr allgemein. Ein Großteil des Wissens zirkuliert vielmehr in informellen Netzwerken, zu denen man jedoch einen Zugang benötigt.
Das zweite große Problem ist häufig das Geld. Natürlich, nichtakademisch bedeutet nicht gleichzeitig auch immer arm und doch verfügen diese Promovierenden zumeist nicht über dieselbe finanzielle Absicherung bzw. eine Familie im Hintergrund, die in schwierigen Situationen einspringen und unterstützen kann. Dabei ist es vor allem die Zeit zwischen dem Masterabschluss und der Aufnahme der Promotion, die eine besondere finanzielle Herausforderung darstellt. Vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften müssen hier Zeiträume von mehreren Monaten selbstständig überbrückt werden, da erst noch ein Exposé erstellt werden muss und Bewerbungsverfahren langwierig sind. Aber auch, wer das geschafft hat, muss Forschungs- und Tagungsreisen häufig selbst finanzieren oder zumindest das Geld vorstrecken, bis die Summe nach der Reise erstattet wird. Gerade bei Auslandsaufenthalten können so schnell vierstellige Beträge anfallen. Und wer am Ende der Promotion noch ganz klassisch eine Monografie publizieren möchte, muss mehrere tausend Euro aufwenden, um die eigene Arbeit als gedrucktes Buch in den Händen halten zu können.
Man fällt schnell auf, wenn man nicht die „richtige“ Sprache spricht
Drittens kämpfen viele Promovierende aus nichtakademischen Elternhäusern mit Fremdheitsgefühlen – gegenüber der eigenen Familie, aber auch häufig gegenüber der Universität. Die spezifischen Spielregeln des wissenschaftlichen Feldes machen sich besonders ab der Phase der Promotion bemerkbar, wenn die sozialen Interaktionen auf Tagungen, Kolloquien und Institutsveranstaltungen zunehmen. Hier fällt man schnell auf, wenn man nicht die „richtige“ Sprache spricht, die „falschen“ Hobbys hat oder einfach der Habitus nicht stimmt. Nicht selten kommt so das Gefühl auf, dass die Universität nicht der passende Ort für einen selbst sei, man dort nicht hingehöre. Zudem kann es zu einer Entfremdung gegenüber der Familie und dem Bekanntenkreis kommen. Man fühlt sich nicht mehr zu Hause, passt nicht mehr richtig rein. Kaum jemand versteht, was man da eigentlich macht und vor allem warum man noch einmal mehrere Jahre weiter studiert, anstatt nun endlich zu arbeiten. Probleme, aber auch Erfolge, teilen viele gar nicht mehr, um langen Erklärungen, Unverständnis und Enttäuschung aus dem Weg zu gehen.
Wegen all dieser Probleme haben wir bereits vor fünf Jahren den gemeinnützigen Verein Erste Generation Promotion – EGP e. V. in Köln gegründet: Dieser setzt sich seitdem für Promovierende und Promotionsinteressierte mit einem nichtakademischen Familienhintergrund ein und ist deutschlandweit die einzige Initiative, die sich speziell an diese Zielgruppe wendet. Mittlerweile sind wir acht ehrenamtliche Mitarbeiterinnen, die promovieren oder ihre Promotion bereits erfolgreich abgeschlossen haben und alle von uns kommen selbst aus einem nichtakademischen Elternhaus. Wir haben persönlich erlebt, welche Hürden und Probleme sich nicht nur beim Übergang vom Studium zur Promotion, sondern auch während dieser auftun können.
Unser Verein für Erste-Generation-Promovierende hilft bei allen Fragen rund um die Dissertation
Um bei all diesen Schwierigkeiten zu helfen, bieten wir verschiedene Angebote an. Besonders wichtig sind die kostenlosen Beratungen. Mit allen Fragen und Problemen rund um die Promotion und deren Aufnahme könnt ihr uns kontaktieren. In einem persönlichen Gespräch oder per Telefon versuchen wir, Ratsuchenden weiterzuhelfen. Darüber hinaus bieten wir regelmäßig Workshops an. In diesen kann es zum Beispiel darum gehen, wie man ein gutes Exposé schreibt oder wie eine Promotion am besten bei der Steuer geltend gemacht werden kann. Uns geht es darum, Promovierenden und Promotionsinteressierten der ersten Generation handfeste Tipps und Tricks zu vermitteln. Zweimal im Semester findet außerdem ein EGP-Stammtisch in Köln statt. Zu diesem können alle Interessierten kommen und sich mit uns und anderen mit diesen Erfahrungen vernetzen. Denn eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Jahre war für uns, dass wir mit unseren Fragen nicht alleine sind.
Über diese praktischen Hilfestellungen hinaus setzen wir uns auch hochschulpolitisch für mehr Bildungsgerechtigkeit ein und machen auf das Thema aufmerksam. Wir stellen unsere Arbeit regelmäßig auf Tagungen vor und sensibilisieren vor allem auch Beschäftigte im Bildungssektor für das Thema Bildungs(un)gerechtigkeit.
Einer der größten Erfolge war für uns die Implementierung eines Mentoring-Programms für Promovierende und Promotionsinteressierte der ersten Generation an der Universität zu Köln. Das Angebot gibt es bisher in Deutschland nur dort und unterstützt pro Jahrgang 15 Promovierende und Promotionsinteressierte. Die Mentees werden ein Jahr lang von einer Mentorin begleitet, die die Promotion bereits erfolgreich abgeschlossen hat und selbst einen nichtakademischen Familienhintergrund haben. Auf Basis der geteilten Erfahrungen haben die Mentees so eine Ansprechperson, die die eigene Fächerkultur sehr gut kennt und zu der sie nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, denn wer will schon all die vermeintlich „dummen Fragen“ dem eigenen Betreuenden stellen?
Warum machen wir das alles? Abgesehen davon, dass es wünschenswert ist, dass sich alle Promovierenden mit ihrer Energie auf die Dissertation fokussieren können ohne durch fehlende Informationen, Geldsorgen oder das Gefühl des „Nicht-Passens“ gehemmt oder belastet zu sein, würde auch das Wissenschaftssystem von mehr Bildungsgerechtigkeit profitieren. Sonst besteht die Gefahr, dass sich sehr guter wissenschaftlicher Nachwuchs selbst aussortiert – z. B. weil die Belastungen zu hoch und die Kosten zu groß sind. Den Flaschenhals der Dissertation überwinden dann nicht mehr bloß die Besten, sondern vor allem die, die über die besten Voraussetzungen verfügen, um diese Hürden zu überwinden. Und das wäre letztlich zum Nachteil aller.