Die Wirtschaft ist nicht die zweite Wahl
Ein Plädoyer für die richtige WortwahlVor ziemlich genau sieben Jahren habe ich meine Promotion im Fach Physik abgeschlossen und eine Stelle als Projektmanagerin bei der Joachim Herz Stiftung in Hamburg angetreten. Seitdem bin ich dort für vielfältige Projekte in der Wissenschaftsförderung zuständig – vor allem zur Unterstützung von Doktorand*innen und Postdocs. Bei Treffen mit unseren Fellows, vorwiegend Doktorand*innen in den Naturwissenschaften, werde ich immer wieder gefragt, warum ich eigentlich aus der Wissenschaft ‚ausgestiegen‘ sei. Dieser ‚Ausstieg aus der Wissenschaft‘ ist eine Formulierung, die häufig auftaucht und leider nicht sehr positiv klingt. Sie suggeriert eine negative Entscheidung – die jedoch fast zwei Drittel aller Promovierten getroffen haben (oder auch treffen mussten). Das Wort ‚Ausstieg‘ deutet auch an, dass es vorher ein klar definiertes Ziel ‚Wissenschaftler*in‘ gegeben hat, das nun nicht erreicht wurde. Aber ist das so?
Nach einer Studie des Stifterverbands aus dem Jahr 2015 geben bereits 50 Prozent der Befragten schon zu Beginn ihrer Promotion an, nach ihrem Abschluss am liebsten in der Wirtschaft arbeiten zu wollen. Kann man bei einer Entscheidung für die Wirtschaft dann wirklich von so etwas wie einem Ausstieg sprechen? Geht es nicht vielmehr um das Ablehnen einer Option von vielen? Es ist jedoch genau die Option, die im Wissenschaftsbetrieb – und damit von allen um einen herum – als einzig richtige Wahl gesehen wird. In ihrer Umfrage unter Frauen, die das Wissenschaftssystem verlassen haben (What I Wish I Had Known: Post Academic Women and Their Advice for Leaving the Academy) hat Beth M. Duckles Antworten erhalten wie „No one in professional life outside the academy thinks it’s weird to leave the academy“. Vielleicht wäre es für alle nicht schlecht, wenn sich der Blickwinkel ändert oder einfach weitet – in der öffentlichen Kommunikation und vor allem im Wissenschaftssystem selbst.
Universitäten müssen umdenken – junge Wissenschaftler*innen auch
Universitäten sollten den Wechsel nicht stigmatisieren. Sie sollten stolz auf alle Absolvent*innen sein – auch auf diejenigen, die ihr Wissen und Können nach der Promotion anderswo einbringen. Und junge Wissenschaftler*innen sollten den Ausstieg als Chance begreifen, nicht als Scheitern.
Während der Promotion lernt man wissenschaftlich zu arbeiten, die eigene Arbeit einzuordnen, Daten und Fakten zu sammeln, neue Methoden anzuwenden. Das sind nicht nur in der Forschung wertvolle Eigenschaften. Genau diese Arbeitsweisen können auch mit Blick auf die möglichen Karrierewege angewandt werden: Wissen sammeln, sich selbst einordnen. Methoden finden, um mögliche weitere Entwicklungsschritte sichten und analysieren zu können. In ihrem Artikel „Ausstieg aus der Wissenschaft – Problem oder gute Idee?“ schreibt Sandra Beaufaÿs, dass ein ‚Ausstieg‘ aus dem Hochschulsystem auch einfach bedeuten kann, dass es in anderen Bereichen attraktivere Bedingungen gibt. Genau das gilt es für jeden individuell herauszufinden – und wenn das mit wissenschaftlicher Akribie geschieht, umso besser.
So wie ein Doktortitel nur ein akademischer Grad ist, ist auch eine Karriere in der Wissenschaft nur ein möglicher Weg von vielen. Die Entscheidung, was nach der Promotion passiert, ist eine individuelle Berufsentscheidung, wie sie täglich von Millionen von Menschen getroffen wird. Eine Promotion kann viel Spaß machen, Frustration bedeuten, lehrreich, nervig oder erfüllend sein. Sie kann neue Türen öffnen und andere Wege verbauen. Sie ist ein Karriereabschnitt. In Karriereratgebern wird das, was viele von uns inzwischen leben, als ‚Mosaikkarriere‘ bezeichnet. Diese sind mehrdimensional und nicht klar vorgegeben. Die Promotion ist darin ein Baustein – neben Schule, Ausbildung, Studium, Weiterbildung, Berufserfahrung, Jobwechseln, individuellen Eigenschaften und Interessen.
Den Blickwinkel für vielfältige Karrieren öffnen
Philipp Krüger, Autor des Artikels „Why it is not a ‚failure‘ to leave academia“, der im vergangenen Jahr in der nature Career Column erschienen ist, schlägt Universitäten und Arbeitsgruppen vor, Alumni-Seiten mit derzeitigen Arbeitgeber*innen von Promovierten zu erstellen. Seien es Behörden, Unternehmen in der Wirtschaft, selbstständige Berater*innen, Startups oder auch Stiftungen. Eine schöne Idee. Dadurch kann zum einen allen Studierenden und Promovierenden verdeutlicht werden, was mit dem jeweiligen Abschluss alles möglich ist. Zum anderen könnten Universitäten und Fachbereiche durch solche Initiativen ihre Unterstützung für zahlreiche Wege außerhalb des Hochschulsystems zeigen. Vielleicht muss die Realität der nicht unbedingt geradlinig verlaufenden Karrieren einfach ein Stückchen mehr in den Blickwinkel der Universitäten geholt werden, um sie dann auch offen kommunizieren zu können.
Denn Kommunikation spielt in allen Bereichen der Promotion eine wichtige Rolle: sei es beim Austausch mit Kolleg*innen, Kooperationspartner*innen und dem/der Betreuer*in, bei der Vermittlung des eigenen Themas, oder der Formulierung der eigenen Erwartungen. Aber auch die Kommunikation über die Promotion und die vielfältigen Möglichkeiten danach sollte nicht vernachlässigt werden und vor allem nicht zu negativ geraten. Vielleicht sollte man nicht nur die Vielfalt der Karrierewege positiv sehen, sondern dem Wort ‚Ausstieg‘ selbst eine positive Richtung geben. In anderen Situationen – sei es aus dem Auto, Bus, Flugzeug (da kann es meist nicht schnell genug gehen) oder Zug – ist ein Ausstieg ganz normal. Man steigt eben aus, wenn man am Ziel ist, wenn es einem gut gefällt oder man einfach mal frische Luft und neue Eindrücke braucht. Wenn wir also das Wort Ausstieg nicht wegbekommen, sollten es alle, die es bisher negativ gesehen haben, positiv umdeuten – verbunden mit neuer Freiheit oder Ankommen. Natürlich ist ein Ausstieg auch nicht immer ganz freiwillig. Manchmal muss man auch aus dem Zug aussteigen, weil er zu voll ist und man keinen Sitzplatz reserviert hat. Das ist erst einmal keine schöne Erfahrung und sehr ärgerlich, wenn man eigentlich weiterfahren wollte. Doch wer weiß, was der Ausstieg bringt! Eine Luftveränderung, neue Abenteuer, eindrucksvolle, ursprünglich nicht geplante Wege. Wir sollten vor allem an diese Möglichkeiten denken, wenn wir das Wort Ausstieg hören.
Als Stiftung versuchen wir den Kultur- und Imagewandel voranzutreiben und selbst besser darauf zu achten, wie wir über den Ausstieg aus der Wissenschaft sprechen. Schließlich sind viele von uns ‚Aussteiger*innen‘ – und damit im Großen und Ganzen sehr zufrieden.