Eine Kopie für jede Hose
Viele Promovierende leiden an Prokrastination – an chronischem Aufschieben. Dagegen lässt sich etwas tun.Seit zwölf Jahren erforschen und therapieren Wissenschaftler der Prokrastinationsambulanz an der Uni Münster chronisches Aufschieben. Dieses führt, wie sie herausgefunden haben, bei manchen Personen zu Leid von klinischem Ausmaß. „Die Betroffenen stehen häufig unter sehr hohem inneren Druck, haben Schlafstörungen, sind ängstlich, depressiv und selbstabwertend“, sagt die Psychologin Julia Haferkamp. „Viele haben keine andere psychische Erkrankung, die das erklären könnte.“ Sie fordert deshalb, Prokrastination solle den Status einer eigenständigen Diagnose bekommen. Die Kriterien hierfür hat das Team um Haferkamp schon entwickelt. Hier kannst du herausfinden, ob du sie erfüllst.
Nicht jeder freilich, der hin und wieder Aufgaben vor sich her schiebt, hat ein Problem klinischen Ausmaßes. Das Aufschieben nämlich ist ein Breitensport. So sagt Julia Haferkamp, bei ihren Studien sei herausgekommen, dass nur zwei Prozent der Befragten immer alles sofort erledigen, was sie erledigen sollten. Besonders wenn Aufgaben monoton seien, neige man dazu, beispielsweise bei der Steuererklärung, oder wenn sie schwierig und komplex seien – was bei einer Promotion ja andauernd der Fall ist.
Wiebke ist 29 Jahre alt und promoviert in Germanistik. Sie sagt von sich: „Im Nachhinein war es dumm, dass ich am Anfang der Promotion so viele Nebenjobs gemacht habe. Indem ich immer diese kleine Aufgaben und viel für andere gemacht habe, habe ich mir vor der Diss gedrückt.” Heute arbeite sie zwar kontinuierlicher an ihrer Doktorarbeit, lasse sich aber immer wieder ablenken: „Ich leide schon ziemlich darunter, dass ich eigentlich mehr schaffen könnte.“
Etwas Ähnliches kennt auch der 30-jährige Doktorand Moritz: „Ich schaue alle fünf Minuten auf Facebook. Ich weiß, dass mich das aus der Konzentration reißt, und mache es doch wieder“. Was die beiden beschreiben – Moritz übrigens, während er mit seinem Handy spielt – ist ein wichtiges Charakteristikum der Prokrastination. Sie wird nicht durch Untätigkeit definiert, sondern durch Ablenkung und die Beschäftigung mit Angenehmerem, etwa Facebook-Neuigkeiten, oder Leichterem, das Erfolg garantiert – etwa einem Nebenjob.
„Zunächst ist Aufschieben ja ein ganz logisches Verhalten, um unangenehme Gefühle und Gedanken zu vermeiden und sich angenehme zu verschaffen“, sagt die Psychologin Julia Haferkamp. Wenn wir jedoch in übertriebener Weise aufschieben, stehen wir bald vor einer Menge Problemen: Es entstehen Konflikte mit Partnern und Freunden, unsere Leistung nimmt ab, wir geben wichtige Ziele auf, kommen in Geldnöte.
Doch wir können etwas dagegen tun.
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Der erste Schritt heißt: Bestandsaufnahme. Welche Aufgaben schiebe ich wann und wie lange vor mir her? Was ist mein Ziel? In dem Selbsthilfe-Buch „Heute fange ich wirklich an“ von Anna Höcker, Margarita Engberding und Fred Rist finden sich viele solcher Fragen, die bei der Selbstanalyse begleiten. Dazu gehört auch, sich seiner Gefühle und Haltungen bewusst zu werden. Das können zum Beispiel Versagensängste sein („Ich schaffe das nie“). Oder übertriebener Perfektionismus („Die Arbeit muss brillant werden“). Oder Vorstellungen, die zwar manchmal der Realität entsprechen, manchmal aber auch einfach nur Ausreden sind („Ich bin viel zu müde, um mich konzentrieren zu können“). All das führt zur Prokrastination – und all das sollte man hinterfragen und relativieren. Wer zum Beispiel denkt, er werde nie mit seiner Arbeit fertig werden, könnte dem entgegenhalten: „Das ist eine Übertreibung. Gerade kommt es mir zwar so vor, aber wenn ich Schritt für Schritt vorgehe, gelingt mir das schon irgendwie.“ Haferkamp empfiehlt, sich solche Gedanken aufzuschreiben und auf einem Zettel mit sich zu tragen.
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Dann ist es wichtig, zu verstehen, welche Lernprozesse mit dem Aufschieben einhergehen und dafür sorgen, dass es aufrechterhalten wird. Kurzfristig ist es zum Beispiel angenehmer, sich nicht mit schwierigen Forschungsfragen zu beschäftigen, auch wenn das langfristig zum Problem wird. Um uns das bewusst zu machen, ist es ratsam, auf einem großen Blatt Papier die positiven und negativen Konsequenzen festzuhalten, die unsere Handlungen auf kurze und lange Sicht haben.
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Wer zu Julia Haferkamp in die Sprechstunde kommt, erstellt, sobald er seine Probleme analysiert hat, einen Arbeitsplan. „Dabei ist ganz wichtig, sich ein realistisches Ziel zu setzen. Wir neigen häufig dazu, uns zu viel vorzunehmen. Darum ist die 50-Prozent-Regel gut: sich 50 Prozent von dem vornehmen, was man eigentlich vorhatte“, empfiehlt Haferkamp. Wichtig sei, die Schritte klein zu halten, damit man sie abhacken kann und ein motivierendes Erfolgserlebnis hat. Auch Doktorandin Wiebke nutzt die motivierenden Effekte kleiner Erfolge. Sie hat für jeden Tag eine To-do-Liste mit Aufgaben verschiedener Schweregrade. „Wenn ich nicht weiterkomme, mach ich etwas Leichtes, dann komme ich wieder rein.“
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Ein besonders spannender Ansatz, der von den Münsteraner Forschern empfohlen wird, ist die Arbeitszeitrestriktion. Demnach dürfen Betroffene nur noch eine begrenzte Zeit pro Tag arbeiten. Erst wenn sie es schaffen, diese auch wenigstens zu 50 Prozent zu nutzen, werde der Zeitraum Schritt für Schritt wieder ausgeweitet. „Damit ändern wir die Motivationslage – von ‚ich muss‘ zu ‚ich darf‘“, erklärt Haferkamp.
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Auch eine andere Regel wirkt zunächst kontraintuitiv, ist aber enorm wichtig: sich nicht bestrafen. Auch nicht, wenn wir unzufrieden sind. „Die Selbstabwertung zieht einen ja wieder runter, statt zu motivieren. Bei einigen ist sie sogar der Grund für Prokrastination“, sagt die Psychologin.
Darüber hinaus gibt Haferkamp die folgenden Tipps:
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einen konkreten Vorsatz fassen (mit fester Uhrzeit, festem Ort, klarer Aufgabe);
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sich gegen Handlungsalternativen abschirmen (etwa indem man das WLAN deaktiviert, das Handy ausschaltet, einen ungestörten Arbeitsplatz sucht, dem Umfeld kommuniziert, dass man zu bestimmten Zeiten nicht kontaktiert werden will);
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einen Motivationssatz verfassen („Wenn ich das jetzt mache, fühle ich mich später gut!“);
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Belohnungen und Pausen einplanen.
So banal der Pausentipp auch sein mag, umgesetzt wird er nicht immer. „Zu mir kommen oft Leute, die sagen: Ich promoviere jetzt. Da habe ich keine Zeit für anderes“, sagt Helke Hillebrand, Direktorin der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg. Hillebrand ist seit zehn Jahren so etwas wie die erste Ansprechpartnerin für alle Schwierigkeiten von Promovierenden, „die gute Seele“, wie ein Doktorand sagt. Seit einem Jahr ist die Biologin Direktorin der Graduiertenakademie, vorher hat sie neun Jahre lang als „Dean of Graduate Studies“ Promovierende am European Molecular Biological Laboratory in Heidelberg betreut, einer weltweit renommierten Forschungseinrichtung.
Sie glaubt, dass Prokrastination bei Promovierenden auf die schwierigen Aufgabe zurückzuführen ist, denen sie sich jeden Tag stellen müssen, aber mindestens ebenso sehr auf die Lebensphase: „In der Schule und im Studium fällt es leichter, sich zu fokussieren, weil man übersichtlichere Abschnitte vor sich hat und eines nach dem anderen machen kann. Aber je älter man wird, desto weniger kann man Dinge nacheinander machen und desto mehr muss man verschiedene Lebensbereiche ausbalancieren.“ Drei Jahre sind eine lange Zeit, da könne viel passieren. Etwa Beziehungsbrüche oder Erkrankungen der Eltern.
Zudem wisse man gerade am Anfang gar nicht so recht, wie man so eine Dissertation anzugehen habe. „Man geht das erste Mal in eine professionelle Richtung, aber der Übergang aus dem Studium ist fließend und nicht immer leicht. Man muss für sich ja erst einmal lernen, wie man mit seinem Zeitbudget umgeht, wie viel davon Spiel ist – und wie viel Ernst.“
Wann ist weitere Lektüre sinnvoll – und wann drücke ich mich damit nur vom Schreiben? Fragen wie diese stellen sich Moritz und Wiebke immer wieder. Auch Hillebrand sagt, dass es dafür keine klare Antwort gibt. Überhaupt sei es schwer, allgemeine Regeln zu formulieren. „Es geht bei der Dissertation ja auch um eine Individualisierung.“
Speziell bei Doktoranden vermutet die Biologin aber auch ein anderes Problem: dass man gar nicht fertig werden will. Beispielsweise, weil man gerne Wissenschaftlerin bleiben möchte, sich aber wenig Chancen auf eine Postdoktorandenstelle ausmalt. Gerade in solchen Fällen sei es wichtig, sich zu informieren, was es für Möglichkeiten außerhalb der Hochschule gibt, anstatt seinem wahrscheinlich doch nicht erfüllbaren Traum von der Wissenschaft nachzutrauern.
Viele verblieben aber auch deshalb in der Zwischenzone Promotion, weil sie meinen, die Entscheidungen, die sie danach treffen, sei endgültig. „Mit dem Studium hat man ja schon eine verlängerte Entwicklungsphase und mit der Promotion noch einmal. Der Druck ist oft groß, weil man den Sack mit der Entscheidung viel später zumacht als der Rest der Kohorte.“ Dabei muss eine Entscheidung nicht für immer sein. Hillebrand selbst ist das beste Beispiel, auch sie war einige Jahre in der Industrie und kam dann an die Uni zurück.
Auch Hillebrand hat praktische Empfehlungen für diejenigen parat, die mit einem Prokrastinationsproblem zu ihr kommen.
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Arbeit in zwei bis vier Wochen große Pakete verpacken und dafür Deadlines vergeben. Aufschreiben. Das Blatt zehnmal kopieren, in jede Hosentasche stecken und sich beständig sagen: Ich halte mich daran.
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Über Pläne reden. So wird aus einer Mücke kein Elefant. Das Gefühl, Betreuenden zur Last zu fallen, wird Hillebrands Meinung nach überschätzt. „Wenn man klare Fragen hat, haben sie nichts dagegen, von Zeit zu Zeit aufgesucht zu werden.“ Alternativ gibt es auch andere Ansprechpartner, zum Beispiel die Koordinatoren von Graduiertenschulen.
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Kurse besuchen. Viele Hochschulen bieten Workshops zu Antiprokrastination oder Zeitmanagement an. Und vielleicht findet man dort sogar eine Kollegin, die ähnliche Probleme hat; so kann man sich gegenseitig motivieren.
Prokrastination ist keine Lappalie. Aber wer darunter leidet, kann etwas dagegen tun. So ist die Münsteraner Arbeitsgruppe, die zum Thema geforscht hat, der Überzeugung, dass es sich bei der Prokrastination um erlerntes Verhalten handelt. Und was gelernt wurde, kann auch wieder verlernt werden. Anders gesagt: Wenn Mücken zu Elefanten werden können, können Elefanten auch zu Mücken werden.