Zweifler, Streber, Wellenreiter
Wenn sich trifft, was nicht zusammenpasst: Diese Doktoranden-Typen begegnen dir im Einführungsseminar der Graduiertenschule.Der Netzwerker
Er setzt sich ungefragt neben dich, stellt sich mit Namen und Schlüsselqualifikationen vor und gibt dir gleich mal das Gefühl, dass er alles weiß und du nichts. Beispiele seines schier unendlich wirkenden und stets mit Hilfe eines Smartphones aktuell gehaltenen Wissensschatzes: wichtige Konferenzen und Tagungen, die E-Mail-Adressen aller Koryphäen seines Fachgebiets, die aktuellen DFG-Förderprogramme. Die Abkürzungen von wissenschaftlichen Organisationen, die er dir ums Ohr haut, erinnern dich an „MfG“, den alten Fanta-4-Song. Er kann es nicht glauben, dass du von all diesen Dingen keine Ahnung hast. Nur gut, dass der Netzwerker bald aufhört, sich für dich zu interessieren, da eine wichtigere Person als du den Raum betritt:
Die Professorinnentochter
Ihre Mutter ist zufällig diese angesehene Professorin des benachbarten Lehrstuhls. Das erklärt natürlich in keinster Weise, warum die Professorinnentochter eine der wenigen bezahlten Promotionsstellen an diesem Lehrstuhl bekommen hat. Die Ausschreibung sei schließlich öffentlich gewesen, verteidigt sie sich im vorauseilenden Gehorsam. Überhaupt ist der Professorinnentochter der unverhoffte Ruhm, der ihr durch den Netzwerker zuteil wird, etwas peinlich. Entschuldigend erzählt sie, dass sie es wirklich mit einem anderen Studienfach probiert hätte, aber sie sich schließlich dem mütterlichen Erbe beugen musste. Sie hätte sich jedoch durch ihr Spezialgebiet ganz klar von ihrer Mutter abgegrenzt. Damit zieht sie die Aufmerksamkeit eines weiteren Promovierenden auf sich: Als der geborene Forscher ihr interessiert eine tiefergehende Frage zu ihrem Promotionsthema stellt, weiß die Professorinnentochter nicht mehr weiter und eilt vor die Tür, um den Dozenten des Kurses zu begrüßen, ebenfalls ein Kumpel ihrer Mutter.
Der geborene Forscher
Mit vier Jahren hat er das „Was-ist-was?“-Buch zu seinem Fachgebiet geschenkt bekommen und ist diesem seitdem rettungslos verfallen. Im Gegensatz zum Netzwerker kennt er nicht nur die Namen aller bahnbrechenden Forscherinnen, sondern hat auch alle ihre Aufsätze gelesen. Bereits seine Bachelorarbeit war eine fundierte wissenschaftliche Abhandlung. Und natürlich gab es für den geborenen Forscher nur dieses eine, alles überstrahlende Ziel: die Welt mit seinen Erkenntnissen retten! Das Problem: Der geborene Forscher ist unglaublich schüchtern. Da er schon als Jugendlicher statt Starschnitten ein in schlechter Qualität ausgedrucktes Foto seiner Lieblingswissenschaftlerin über dem Bett hängen hatte, konnte er sich in all der Zeit, die er sich tiefer in sein Fachgebiet einarbeitete, nicht dazu überwinden, seiner Ikone zu schreiben, selbst als diese eine Promotionsstelle an ihrem Lehrstuhl ausschrieb. Ein Unglück, denn nun promoviert er mit zwanzig anderen bei einem Professor, der keine Ahnung von dem Spezialgebiet des geborenen Forschers hat. Die Hoffnung stirbt jedoch zuletzt. Das versichert ihm auch:
Die pensionierte Lehrerin
Diese hätte so gerne bereits nach ihrem Lehramtsstudium promoviert. Dann kam allerdings Referendariat, Mann, Kinder, ein erfüllender, wenngleich herausfordernder Job, und schon ist man 64 und hat sich noch nicht einmal seinem wissenschaftlichen Interessen gewidmet! Der Eifer, mit dem die pensionierte Lehrerin Letzteres äußert, spiegelt sich in ihrem Stundenplan, der, ordentlich farblich markiert, vor ihr liegt und eine ausgewogene Mischung aus Vorlesungen, Exkursionen, Oberseminaren, Softskill-Trainings und vergünstigten Pilateskursen über den Unisport beinhaltet. Frau müsse ja erst einmal wieder in die wissenschaftliche Welt hineinkommen, erklärt sie und klingt sehr überzeugend.
Der Unentschlossene
Es gibt viele Gründe, von der Welt da draußen überfordert zu sein. Bei ihm treffen sie alle zu: Nachdem er mit 17 Jahren sein Abitur in der Tasche hatte, hatte er das Pech, bereits genau zu wissen, was ihn interessiert. Was zur Folge hatte, dass er sich einfach in seiner Nachbarstadt in den entsprechenden Bachelor immatrikuliert hat. Als er damit fertig war und erwachsen genug, um von zu Hause wegzuziehen, hat er dann doch einen konsekutiven Master an dem Lehrstuhl gemacht, auf dem jetzt auch sein Doktorvater sitzt. Dass er sein Angebot, bei ihm zu promovieren, nicht ausgeschlagen hat, liegt vor allem daran, dass er sich erstens mit 23 Jahren noch viel zu jung fühlt, um irgendetwas in der Wirtschaft zu machen, und sich zweitens nicht entscheiden will, ob nicht doch auch eine wissenschaftliche Karriere für ihn infrage käme. Diese Unentschlossenheit eint ihn mit einer weiteren Doktorandin, die kurz nach Beginn des Seminars den Raum betritt.
Die geborene Studentin
Sie war schon an dieser Hochschule, als der Bachelor noch ein umständliches, von niemanden studiertes Ding namens Bakkalaureus war und der Master Magister hieß. Die Geschichten, die sich in ihrem skeptischen Blick spiegeln, erzählen von Studierendenstreiks und endlosen philosophischen Diskussionen. Sie war eine Ikone, eine lebende Legende des Asta. Und jetzt das: Nach jahrelangem erfolgreichen Widerstand wurde auch sie zur Graduate School im Allgemeinen und zum Einführungsseminar im Besonderen zwangsverpflichtet – dieses von Hochschulmanager entwickelte Instrument zur Unterdrückung des freien Studierendenwillens! Ihre Empörung über das System und die daraus folgende politische Agitation lenkt sie von ihren eigentlichen Problemen ab: etwa, dass ihre zahlreichen Nebenjobs zur Finanzierung der Dissertation ihr kaum mehr Zeit für diese lassen. Oder dass ihre Doktormutter seit geraumer Zeit emeritiert ist.
Der Surfer
ist der einzige, den die geborene Studentin auf den ersten Blick sympathisch findet, weswegen sie sich prompt auf den freien Platz neben ihn setzt. Im weiteren Verlauf des Seminars erfährst du durch halblaut geführte Unterhaltungen mehr über die tiefenentspannte Lebensphilosophie des Surfers. Vom genervten Dozenten direkt darauf angesprochen, ist er natürlich smart genug, sein Desinteresse an der wissenschaftlichen Welt durch smart klingende Floskeln zu verschleiern, aber im Gespräch mit der geborenen Studentin interessieren wissenschaftliche Konferenzen höchstens dann noch, wenn sie zufällig an Traumstränden stattfinden. Die Dissertation bietet das perfekte Alibi für den Surfer, um seiner eigentlichen Leidenschaft nachzugehen – natürlich auch seinen Eltern gegenüber, die ihm nichtsahnend seine Promotion finanzieren.
Die Unternehmensberaterin
30 Minuten, nachdem die Veranstaltung offiziell begonnen hat, kommt die Unternehmensberaterin ins Zimmer geeilt. Als Entschuldigung führt sie einen verspäteten Flug aus Tokio an, wo sie ein zweistündiges Meeting mit einem wichtigen Kunden geleitet hat. Als sie aufgefordert wird, ihr Promotionsprojekt vor dem Kurs vorzustellen, ist sie merklich enttäuscht, dass der Dozent eine Powerpoint-Präsentation für übertrieben hält. Im Anschluss hält sie einen halbstündigen Vortrag darüber, wie wichtig ihr insbesondere die Vernetzung zwischen Wirtschaft und Wissenschaft ist und welche renommierten Unternehmen sie bereits als Partner für ihre empirisch angelegte Studie gewinnen konnte. Den Rest der Zeit tippt sie schweigend auf dem Smartphone herum, zumindest bis auf den kurzen Moment, in dem sie den Internationalen neben sich fragt, ob er ihr eine gute chinesische Übersetzungsagentur empfehlen kann, sie sei mit ihrer jetzigen unzufrieden.
Der Internationale
kann ihr leider nicht weiterhelfen, denn er ist Koreaner. Er folgt der Veranstaltung konzentriert und stellt ambitionierte Fragen in fast akzentfreiem Deutsch, die der Dozent wiederum in gebrochenem Englisch beantwortet. Dabei weist er unter anderem auf das Problem hin, dass die Graduate School zwar international beworben wird, aber alle Veranstaltungen auf Deutsch sind, was zwei seiner Kolleginnen, die die Sprache noch nicht so gut beherrschten, von der Teilnahme leider ausschließe. Die Neuigkeit für dich ist hierbei vor allem, dass es so etwas wie eine Ausschreibung zu dieser Graduiertenschule überhaupt gab. Beim Blick in die Runde fällt dir außerdem auf, dass eine fehlt:
Die zukünftige Professorin
Alle bewundern sie. Sie liebt ihr Fach von klein auf und hat sich während ihres Studiums auf eine äußerst vielversprechende Theorierichtung spezialisiert. Zahlreiche Forschungsaufenthalte im Ausland geben ihr ein internationales Profil. Zudem engagiert sie sich hochschulpolitisch, indem sie als Promovierendenvertreterin in verschiedenen Gremien sitzt. Zur Wirtschaft pflegt sie beste Kontakte, allerdings bewahrt sie sich hier die kritische Distanz. Dabei hilft ihr vor allem ihr weitreichendes wissenschaftliches Netzwerk, das sie zusammen mit ihrem Elternhaus tatkräftig bei ihrer Karriere unterstützt – auch ihre Eltern sind renommierte Forscher. Glücklicherweise ist die zukünftige Professorin trotz ihres Ruhms eine äußerst angenehme Zeitgenossin. Dazu trägt vor allem ihr großes Interesse für Hockey bei, dem sie in der Kreisliga nachgeht. Leider fehlt sie. Und seltsamerweise behauptet der Dozent, dass alle angemeldeten Teilnehmenden anwesend seien.
Ach, stimmt ja: Diese Frau gibt es gar nicht.